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„Wir müssen raus zu den Menschen“

In einem der kulturell vielfältigsten und schillerndsten Bezirke Berlins will eine Gruppe junger CVJMerinnen und CVJMer ein Zeichen setzen: Sie gründen den CVJM Neukölln. Warum allein der Name Augen zum Glänzen bringt und wieso eine Kirchengemeinde bei der Gründung eine große Rolle spielt – ein Besuch vor der Gründungsversammlung im November.

 

Eben noch war es laut und hektisch. Wer von der geschäftigen Herrmannstraße abbiegt, wundert sich darüber, wie idyllisch Neukölln wirken kann. Herbstbäume und parkende Autos säumen die Kranoldstraße, nur selten kreuzen Passanten einem den Weg. Der Turm der Philipp-Melanchthon-Kirche mit seinem orangefarbenen Ziegeldach und seiner goldenen Uhr ist schon von Weitem zu sehen. „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“, steht über dem Eingang – ein Vers aus dem Matthäusevangelium. Pfarrer Jan von Campenhausen öffnet die Tür, führt durch den Kirchraum und zeigt stolz das Bibellabor der Cansteinischen Bibelanstalt, das seitlich hinter einer Glaswand liegt. Schulklassen und Konfirmanden können dort Bibel-Artefakte anfassen oder Gottesdienst im Computerspiel Minecraft feiern. Das Bibellabor hat Pfarrer von Campenhausen „hergeholt“ – genau wie den CVJM.
 
Seitdem er 2018 die Evangelische Fürbitt-Melanchthon-Gemeinde mit ihren viertausend Mitgliedern übernahm, wälzte er Akten, las Zahlen und sprach mit Leuten über die Situation vor Ort. Die klassischen Probleme von Kirche hätten sich hier angehäuft: stark sinkende Mitgliederzahlen, immer weniger Gottesdienstbesucher sowie eine große Gebäudelast. „Wir haben hier seit Jahrzehnten keine Jugendarbeit. Der CVJM ist ein Partner und genau der, der uns fehlt“, sagt von Campenhausen.
 
„Das war für mich wie ein Wunder“

Rückblick. Auf der Suche nach Kooperationspartnern rief der Pfarrer der Neuköllner Gemeinde 2020 den CVJM Berlin an und traf sich mit seinem damaligen Leiter Gerd Bethke. Gemeinsam begeisterten sie sich für die Idee, ein christliches Studentenwohnheim in den Räumlichkeiten der Gemeinde zu schaffen. „Man muss sagen, dass wir an dieser Idee schon vor 15 Jahren dran waren“, erinnert sich Sebastian Mix, ehemaliger Vorsitzender des CVJM Berlin. Der Vorschlag für ein Studentenwohnheim sei jedoch im Vorstand gescheitert, weil er große Investitionen bedeutet hätte. Doch das Konzept dafür habe in der Schublade überdauert, solange bis Pfarrer von Campenhausen vor der Tür stand – mit zehn Wohnungen und einer riesigen Dachterrasse. „Das war für mich wie ein Wunder, weil ich die Idee schon tot geglaubt hatte. Wir haben so viele Anläufe genommen, und immer wieder gab es Einwände. Und jetzt gibt es nichts mehr zu verlieren“, erklärt Sebastian Mix, der beruflich als Projektleiter im Wohnbau tätig ist. Der 38-Jährige schaute sich die Wohnungen der Gemeinde an, dann den Kiez. Danach stand für ihn fest: „Die Gegebenheiten sind perfekt!“ Und: „Da will ich dabei sein.“

 

Sebastian Mix, Elisabeth Krautwurst und Jan von Campenhausen (v.li.n.re.)
Sebastian Mix, Elisabeth Krautwurst und Jan von Campenhausen (v.li.n.re.)


Der Berliner Bezirk Neukölln ist weit über die Stadtgrenzen bekannt für sein multikulturelles Flair, aber auch für Armut und eine hohe Kriminalitätsrate. Vor allem in den 2000er Jahren verfestigte sich das Bild eines gefährlichen Stadtteils, als Lehrer der Rütli-Schule die Hilfe des Senats einforderten, um das Gewaltproblem an ihrer Schule zu lösen. Heute gilt Rütli als Vorzeigebeispiel und Neukölln als aufstrebender Bezirk, wobei damit immer der nördlichste und am dichtesten besiedelte Teil gemeint ist. Erst kürzlich kürte ein britisches Magazin Neukölln zu einem der coolsten Stadtteile der Welt. In den vergangenen zehn Jahren öffneten hier Bars, Secondhandläden und hippe Restaurants. Die niedrigen Mieten zogen die Kreativszene sowie Studenten an. Geblieben ist die multikulturelle Atmosphäre mit orientalischen Bäckereien und Lebensmittelläden, die Einwandererfamilien betreiben. Geblieben sind aber auch die Probleme, gerade um die Gegend der Herrmannstraße. Die Polizei hat den Bereich als Schwerpunkt für ihre Arbeit ausgemacht. Neukölln – so scheint es – ist ein Ort, an dem vieles möglich ist, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.
 
Die Aufregung ist groß
Inzwischen gluckert die Kaffeemaschine in der schlichten weißen Teeküche der Gemeinde. Pfarrer Jan von Campenhausen und Sebastian Mix begrüßen Elisabeth Krautwurst, die ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern des CVJM Neukölln zählt. „Wir haben ein Team von Leuten, die den Vorstand bilden könnten. Da ist aber immer noch Platz“, berichtet die 26-jährige Schulsozialarbeiterin. Der Großteil der Gründungsmitglieder stamme aus der Gruppe „TEN SING 2.0“, die sich regelmäßig in der Neuköllner Hephata-Gemeinde treffen, um die Musik- und Kulturarbeit des CVJM, TEN SING, anzubieten. Schon länger trage man sich mit dem Gedanken, einen eigenen Verein zu gründen. Doch der letzte Impuls habe immer gefehlt. Nun ist er da – und damit auch die Formalitäten, die dazu gehören: eine Satzung gestalten, die Geschäftsordnung schreiben, Anträge beim Finanzamt stellen. Wie groß ist die Aufregung vor der Gründung? „Die ist schon groß“, sagt Elisabeth Krautwurst und lacht.
 
Nach der Gründung wolle man sich mit der Gemeinde zusammensetzen und die Visionen zusammenbringen. Unter den Gemeindemitgliedern gebe es bereits viel Vorfreude, sagt der Pfarrer. Schon allein der Name „CVJM Neukölln“ bringe „Augen zum Glänzen, weil die Leute plötzlich Hoffnung sähen für ihre Kirchengemeinde“. Neben dem Studentenwohnheim gebe es viele Ideen und Träume – von einem großen Sommerfest für alle Leute aus dem Kiez über Cocktailabende auf der Dachterrasse für junge Erwachsene bis hin zu Veranstaltungen draußen auf dem Tempelhofer Feld, zählt Sebastian Mix auf. Eines sei dabei für den neuen CVJM wichtig: „Wir können uns nicht hinsetzen und sagen: ‚Wir haben hier etwas Gutes. Kommt mal her!‘ Wir müssen raus zu den Menschen gehen, um ihnen Gottes Wort zu bringen.“ Neben den Veranstaltungen außerhalb brauche es aber den „Heimathafen“ in der Gemeinde, an dem man „das Schwarzbrot in geistlicher Hinsicht“ teile.
 
Als zum Abschluss Fotos in der Kirche geschossen werden, albern die Fotografierten miteinander herum. Pfarrer von Campenhausen zeigt Elisabeth und Sebastian Hasenohren. Die Stimmung ist gut. Was sie sich für die Zukunft wünschen? Ein großes Netzwerk, einen hauptamtlichen Mitarbeitenden im kommenden Jahr und Spenden, sagt Sebastian Mix. „Dass wir uns nicht klein machen“, betont Jan von Campenhausen. Viele Menschen würden sagen, Neukölln sei ein hartes Pflaster für die Kirche. „Meine Hoffnung ist, dass Menschen ihre Sehnsucht neu entdecken und fragen, was Gott hier vorhat.“ Elisabeth Krautwurst nickt. Sie sieht die Vereinsgründung als ein Zeichen des Aufbruchs: „Während der Corona-Zeit schliefen viele Projekte ein, Mitglieder gingen weg, Angebote wurden geschlossen. Aber wir gründen etwas Neues. Damit möchte ich anderen Mut machen. Es braucht wieder diese Projekte, die den Schwung anwerfen.“
 
Am 20. November 2021 hat sich der CVJM Neukölln gegründet. Wer den neuen Verein bei seinen ersten Schritten begleiten oder unterstützen möchte, meldet sich gern bei presse@cvjm-neukoelln.de.

 

Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe Nr. 1/22 im CVJM Magazin für das CVJM-Ostwerk.

 

21.02.2022, sb