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„Kinder haben in Deutschland gar keine Lobby“

Regisseur Martin Busker (40) unterstützt in diesem Jahr die Aktion „Die Freizeitpaten“, um Kinder aus benachteiligten Familien auf Reisen zu schicken. Warum ihm das ein Herzensanliegen ist, erzählt er im Gespräch.

 

Martin, aus der Sicht vieler junger Menschen hast du einen Traumjob: Filme machen. Was fasziniert dich an deinem Beruf?

An meinem Beruf fasziniert mich vor allem, dass ich Menschen mit meinen Fil- men berühren kann. Das habe ich selbst schon als Kind gespürt, als ich damals im Kino »E.T. Der Außerirdische« gesehen habe. Der Film hat mich unterhalten, aber gleichzeitig auch tief berührt. Das Kino kann einem etwas Magisches schenken, was kein anderes Medium schafft. Und es war mein großer Traum, selbst Filme zu drehen. Heute genieße ich jede Sekunde, wenn ich gemeinsam mit einem Publikum im Kino sitze und sehe, wie es auf meinen Film reagiert.

 

Viele Leute denken, die Filmwelt ist glamourös und aufregend. Ist sie das denn tatsächlich?

Das Filme Machen ist eigentlich ein Job wie jeder andere auch. Er ist natürlich schon ungewöhnlich, abwechslungsreich und spannend. Aber es ist nicht so, dass einem da irgendetwas geschenkt wird. Die Luft in der Filmbranche ist sehr dünn. Nur die besten können bis ganz nach oben kommen und ihren Traum realisieren. Zu glauben, dass man, wenn man Schauspielerin oder Schauspieler ist, automatisch auf dem roten Teppich flaniert und viel Geld verdient, ist nicht der Fall. Es ist eine sehr harte Arbeit, und man muss sich jedes Jahr auf ’s Neue beweisen.

 

Du drehst gerne Filme über halbstarke Jugendliche, die aus sozial benachteiligten Milieus stammen. Sie riskieren eine große Klappe, tragen aber auch eine mindestens genauso große Verletzlichkeit in sich. Warum widmest du dich diesem Thema?

Meine Kindheit und Jugend waren die absolut wichtigsten Phasen meines Lebens, und dort wurden die Weichen gestellt für den Menschen, der ich heute bin. Ich hatte eine tolle Kindheit und eine tolle Familie. Aber leider gab es auch Umbrüche und Verletzungen. Ich weiß, was das mit mir gemacht hat und wie fragil die kindliche Seele ist. In der Kindheit entscheidet sich, wie gut man später Bindungen eingehen kann, wie sehr man sich selbst vertraut, wie mutig man ist, wieviel Tatendrang man hat, wie kreativ man wird. Ich habe eine große Empathie für Heranwachsende, die vor einer schwierigen Herausforderung stehen, die sie schneller erwachsen machen wird, als ihnen lieb ist. Ich erzähle diese Geschichten sehr gern, weil sie mich am meisten berühren.

 

Die Umbrüche deiner Kindheit hast du gerade schon angedeutet: Die Scheidung deiner Eltern war eine schmerzhafte Erfahrung, die du später auch in einem Kurzfilm verarbeitet hast. Wer oder was hat dich durch diese schwere Zeit getragen?

Tatsächlich war es das kreative Ausleben. Ich habe das erste Mal eine Kamera in die Hand genommen, da war ich neun oder zehn Jahre alt. Mein Onkel schenkte mir seine alte Kamera, und ich habe fast jeden Tag irgendeinen Quatsch damit gedreht. Von kleinen Trickfilmen mit Legofiguren bis hin zu richtigen Geschichten, die meine Freunde und ich uns ausgedacht haben. Im Nachhinein habe ich erkannt, dass es für mich eine Möglichkeit war, Themen zu verarbeiten. Sich kreativ auszuleben kann ein Ventil sein für Dinge, die man nicht in Worte fassen kann. Das hat mir damals unheimlich gutgetan, und das tut es bis heute.

 

In diesem Jahr übernimmst du die Schirmherrschaft über die Aktion »Die Freizeitpaten«. Warum ist es dir ein Anliegen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien Urlaub machen dürfen?

Ich habe als Kind und Jugendlicher viele Freizeiten mitgemacht und weiß, wie sehr mich solche Momente geprägt haben, in denen ich von der Familie weg war, neue Freunde kennengelernt und neue Abenteuer erlebt habe. Dort kann man das, was einen im Alltag begleitet und beschäftigt, hinter sich lassen. Be- sonders Kinder und Jugendliche, die aus schwierigen Verhältnissen kommen, brauchen das. Aber ausgerechnet die haben den geringsten Zugang dazu. Deswegen finde ich die Aktion unheimlich toll.

 

Welche Lobby haben Kinder, gerade die aus sozial schwierigen Verhältnissen, deiner Meinung nach in Deutschland?

Kinder haben in Deutschland gar keine Lobby. Das wird mir immer wieder klar. Ich sehe es zum Beispiel in meinem Beruf, wenn wir darüber sprechen, wie Kinderfernsehen oder Kinderfilme finanziert werden. In Deutschland bewegen wir uns im Vergleich zu anderen europäischen Ländern dabei auf einem extrem niedrigen Niveau.

Letztendlich kommt es hierzulande auf die Familie an, in die ein Kind hinein- geboren wird. Hat es Eltern, die für es kämpfen und dafür sorgen, dass ihm Bildung ermöglicht wird, dass es Hobbies nachgehen kann oder seine Talente entdecken kann? Oder hat es nie- manden? Die letzte Bastion, die diesem Kind bleibt, ist eine Organisation wie der CVJM, der sich mit großem Engagement darum kümmert, dass diese Kids nicht auf der Strecke bleiben.

 

 

Mehr Informationen zum Film

 

 

Für deinen Film Zoros Solo, der die Geschichte eines 13-jährigen Geflüchteten in der schwäbischen Provinz erzählt, hast du unter anderem im CVJM-Jugendhaus Baracke im Märkischen Viertel in Berlin recherchiert. Was konntest du dort für dich und dei- nen Film mitnehmen?

Da konnte ich sehr viel mitnehmen – insbesondere das Gefühl von Sehnsucht, das aus diesen Kindern herausschreit. Gerade bei den Jungs, die sich selbst versuchen als Typen zu inszenieren, denen niemand etwas zuleide tun kann, die laut und frech sind. Und doch tragen sie eine Sehnsucht nach Geborgenheit und Chancen in sich. Gleich- zeitig wissen sie, dass sie diese Chancen nicht bekommen werden. Diese Spannung zwischen dem verletzten Kind innen und diesem harten Typen nach außen, das Herz hinter einer harten Fassade, das habe ich 1:1 in meinen Film nehmen können. Mir sind dort in der Baracke viele Zoros begegnet, und ich wünschte, dass, wenn sie heranwachsen, dieser zarte, weiche Teil überwiegt und ihr Erwachsenenleben prägen wird. Aber ich befürchte natürlich, dass es der andere Teil sein wird. Das hat mich sehr berührt.


Die Filmbranche leidet gerade sehr unter der Corona-Krise. Wie geht es deiner Meinung nach mit Film und Fernsehen weiter, wenn die Pandemie ihren Schrecken verloren hat?

Die Branche geht davon aus, dass die Menschen erst einmal nichts sehen wollen, was mit Corona zu tun hat. Die Auf- arbeitung dieses Themas wird auf sich warten lassen. Die Menschen wollen wahrscheinlich wieder mehr Eskapismus, in Welten eintauchen, in denen sie sich wohlfühlen, weil sie an Bitterkeit und Drama genug gehabt haben. Die Frage, die wir uns stellen, lautet: Werden Menschen noch ins Kino gehen? Wenn man bedenkt, dass Kino bedeutet, fremden Menschen ganz nah zu sein, kann ich mir kaum vorstellen, dass man in den nächsten Jahren wieder zu dieser Nähe bereit sein wird, nachdem man sich eine Weile sogar nicht getraut hat, seine Eltern in den Arm zu nehmen.

 

Die Fragen stellte Sabrina Becker.

Das Interview mit Martin Busker erschien zuerst im CVJM Magazin für das CVJM-Ostwerk, Ausgabe 3/21.