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„Das Miteinander ist eine geile Sache“

Gemeinsam unterwegs (v. li. n. re.): Norman Rossius, der Ukrainer Sascha und Leo Gomille.

Drei Tage nach Beginn des Krieges in der Ukraine schickte der CVJM Frankfurt (Oder) seinen Bus mit Hilfsgütern an die polnisch-ukrainische Grenze. Die Hilfsbereitschaft dauert an: Mittlerweile lädt der CVJM zu einem Kontakt-Café und ermöglicht geflüchteten Kindern und Jugendlichen an drei Tagen der Woche Schulunterricht. Ein Vor-Ort-Besuch

 

Norman Rossius steht am Herd und rührt im dampfenden Wok. Es gibt Spätzle-Pfanne aus der Tiefkühltruhe. Fünf Packungen liegen neben dem Kochfeld – etwa 10 bis 15 Jugendliche sollen davon heute Mittag satt werden. Vor wenigen Minuten kamen die letzten durch die Eingangstür des CVJM Frankfurt (Oder), dessen Vereinshaus zentral in der Stadt nur wenige Meter vom Bahnhof liegt. Der CVJM hat für 40 ukrainische Mädchen und Jungen in der 7. bis 11. Klassenstufe ein Schulprojekt etabliert. Nach dem Unterricht in der örtlichen Volkshochschule, die die Räumlichkeiten stellt, treffen sie sich hier, um gemeinsam Mittag zu essen. Als das Telefon klingelt, reicht eine Mit- arbeiterin den Hörer an Norman weiter. Die Wohnwirtschaft sei dran, es gehe um eine Wohnung für eine ukrainische Familie. »Nicht außerhalb des Zentrums«, antwortet der Sozialpädagoge dem Anrufer, während er die Spätzle wendet.

 

Dass der CVJM zu einer Anlaufstelle für Geflüchtete und ihre Kinder geworden ist, davon berichteten in den vergangenen Wochen immer wieder Journalisten. Nachdem der Krieg in der Ukraine ausbrach, handelte der Verein schnell und beherzt: Ehrenamtliche Mitarbeitende im CVJM Frankfurt (Oder) organisierten binnen drei Tagen einen ersten Hilfsgütertransport. Sie sammelten Spenden und packten den CVJM-Bus voll mit Medikamenten und Lebensmitteln, die sie an die polnisch-ukrainische Grenze fuhren. Auf dem Rückweg nahmen sie Ukrainerinnen mit ihren Kindern mit. Zwei Familien wohnen bis heute im Vereinshaus: Eine Ukrainerin lebt mit ihrem 17-jährigen Sohn in der Gästewohnung, eine weitere teilt sich die ehemalige Pfarrwohnung mit dem CVJM-Sekretär. Bald nach ihrer Ankunft initiierten diese Mütter gemeinsam mit dem CVJM ein Kontakt-Café für Ukrainerinnen, die in Frankfurter Privatunterkünften untergekommen waren. Das Ziel: sich vernetzen, austauschen und informieren.

 

Ein saftiges Grün verleiht der Küche im Jugendhaus eine frische Ausstrahlung. An einem der Oberschränke klebt ein Zettel: »Fluchliste« steht ganz oben, darunter Namen und Striche. Wer fluche, müsse zwei Euro Strafe zahlen, erklärt Leo Gomille und lacht, denn hinter seinem Namen reihen sich viele Striche aneinander. Der 19-Jährige kommt seit Jahren zum CVJM, mittlerweile leitet er ehrenamtlich TEN SING, die musisch- kulturelle Arbeit des CVJM. Sechs ukrainische Jugendliche seien zur Gruppe dazugestoßen. Sie hätten sich selbst über Youtube-Videos beigebracht, Gitarre und Schlagzeug zu spielen. Bei der nächsten TEN SING-Show wollen sie zwei Lieder auf Ukrainisch präsentieren. Wie die Verständigung zwischen ihnen laufe? »Ein paar können ganz gut Englisch. Außerdem lernen sie alle gerade Deutsch. Zur Not gibt es das Handy«, sagt Leo. Während nebenan Billardkugeln klackern, kommt auch Norman zurück von seinem Telefonat.

 

Einfach reingerutscht

Das Mittagessen steht vor den Jugendlichen auf dem Tisch. Der CVJM-Sekretär hat jetzt Zeit für eine kurze Pause. »Wir sind da einfach reingerutscht«, beginnt Norman, nachdem er sich auf eine kleine Bank im Innenhof gesetzt hat. Es habe eins zum anderen geführt: die erste Hilfsgüterfahrt; die Ukrainerinnen, die im Jugendhaus Unterschlupf fanden und Beschäftigung brauchten; das Kontakt-Café und die Mütter, die es besuchten und wiederum ihre Kinder mitbrachten; dann das Schulprojekt, das mit Hilfe von ukrainischen Lehrerinnen hier lanciert werden konnte. Während dieser Text geschrieben wird, ist ein dritter Hilfsgütertransport des CVJM Frankfurt (Oder) unterwegs. »All das wirke wie ein Booster für die eigene Jugendarbeit«, beschreibt Norman. Man sei vernetzter innerhalb der Stadt, bekannter geworden, es kämen viel mehr Jugendliche regelmäßig ins Vereinshaus. Die Ukrainer gehörten dazu: »Jetzt sind es Kinder, die hier wohnen, und damit ist es mein Auftrag, für sie da zu sein und ihnen Angebote zu machen.«

 

Die deutschen Jugendlichen suchten den Kontakt zu den Neuen, auch wenn die Sprache manchmal eine Barriere darstelle, beschreibt Norman. »Es mischt sich. Darauf lege ich wert.« Er betont auch, dass das große Engagement in der Flüchtlingshilfe etwas koste: Freiräume, Zeit. Und dass anderes eben warten müsse. Aber: »Das Leben im Haus, das Miteinander, das ist eine geile Sache. Es ist ein anderes Leben und eine Freude da.« Gerade plant er, wie die Jugendlichen im Schulprojekt in die reguläre Schule wechseln können. Wann das sein wird, weiß Norman allerdings noch nicht, denn die Kommunikation mit den öffentlichen Stellen gestaltet sich zäh. Das Wichtigste sei, den Mädchen und Jungen eine Struktur zu geben: morgens aufstehen, feste Aufgaben, Kontakte mit Gleichaltrigen ermöglichen. Und natürlich auch dadurch die Mütter und Gastfamilien zu entlasten.

 

Plötzlich wird es laut im Innenhof. Aus der Hintertür treten drei schwarz gekleidete Jugendliche mit einem Radio, aus dem Black Sabbath ihren Hit »Paranoid« singen. »Normale Jugendliche«, sagt Norman und grinst. Wie es den ukrainischen Jugendlichen gehe? »Eigentlich weiß ich das nicht genau.« Es gebe die Alleinreisenden, die schon in der Ukraine in einem Heim gelebt hätten und die der Krieg härter treffe als diejenigen, die mit ihrer Familie geflohen seien. Was alle gemeinsam hätten: Niemand spreche gern über den Krieg und seine Gefühle. »Das Gesprächsangebot einer ukrainischen Psychologin haben viele ausgeschlagen, gerade die Jungs«, erzählt der Sozialpädagoge. Dankbar ist er für die große Hilfsbereitschaft der geflüchteten Jugendlichen, die dauernd fragen würden, wo und ob sie helfen könnten.

 

»Die Leute sind cool hier«

Einer von ihnen ist Sascha. Am 2. April floh der 16-Jährige aus Kiew mit seiner Mutter und seiner 12-jährigen Schwester. In Normans Büro schraubt er gerade eine Staffelei für den Zeichenkurs zusammen. Bis seine Schule aus Kiew sich meldete und Online-Unterricht anbot, ging er zum Schulprojekt des CVJM. Ob er ein paar Fragen beantwor- ten mag? Auf Englisch? Sascha nickt. Wo sein Vater sei? »In Kiew. Und meine Großeltern auch.« Und wie geht’s dir damit? »Ich weiß es nicht.« Und was bedeutet dir der CVJM? »Die Leute sind cool hier, sehr nett«, sagt Sascha und zeigt auf Leo und Norman. Und dann müssen alle drei lachen.

 

Sabrina Becker

 

Der Artikel erschien zuerst im CVJM Magazin für das CVJM-Ostwerk, Ausgabe 3/2022.