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„Die Frage ist eher, was muss man aufholen“

© Irina Schmidt/Adobe Stock

 

»Aufholen nach Corona« heißt ein Förderpaket der Bundesregierung, das die Folgen der Pandemie lindern und Kindern ein Aufholen von Lernrückständen ermöglichen soll. Der CVJM Region Bad Belzig begleitete im Rahmen dieses Programms über ein Dreivierteljahr Grundschulklassen. Verloren gegangen sei während Corona vor allem die Sozialkompetenz, erzählt die Jugendreferentin Anita Schneider (37) und erklärt, wieso Mausefallen beim Beziehungsaufbau helfen können.

 

Anita, wie kam es, dass der CVJM bei diesem Förderangebot für Kinder und Jugendliche mitgemacht hat?
Wir haben während Corona viel mit der Grundschule zusammengearbeitet, als die Kinder noch im Homeschooling oder im Wechselunterricht waren. Lehrer:innen haben Kinder, die damit nicht klarkamen, an uns vermittelt. So ist eine gute Beziehung zur Grundschule entstanden. Die Schule kam dann auf uns zu, als das Programm beschlossen wurde.

 

Gibt es deiner Meinung nach einen Aufholbedarf?
Ich glaube schon. Die Frage ist eher, was muss man aufholen. Ich glaube, es geht in erster Linie gar nicht um schulische Kompetenzen, um den Lernstoff, sondern um soziale Kompetenzen, die neu erlernt und gefördert werden müssen – auch in den Klassenverbänden. Im CVJM sehen wir, dass Rituale und Traditionen, die wir über Jahre mit den Jugendlichen eingeübt haben, verloren gegangen sind. Ein Beispiel: Wir setzen uns an eine lange Tafel und essen miteinander. Es war klar, jeder bleibt so lange sitzen, bis alle fertig sind. Diese Regeln im Umgang miteinander waren irgendwann weg – und müssen jetzt neu erlernt werden.

 

Und welche Probleme gibt es gerade in dieser Hinsicht in Klassenverbänden?

Dadurch, dass die Kinder häufig im Homeschooling waren, funktioniert das Zusammenleben in der Klasse nicht mehr. Da stellen sich grundsätzliche Fragen: Wie arbeiten wir zusammen? Wie fragen wir höflich nach Sachen? Wie streiten wir miteinander fair? Gerade die ersten und zweiten Klassen hatten gar keine Chance dazu, dass sich dieser Umgang miteinander entwickeln konnte. Selbst die sechsten Klassen haben sehr unbeständig zusammengearbeitet, so dass sich auch dort kein Gemeinschaftsgefüge entwickeln konnte. Doch Beziehungen können sich nur entwickeln, indem man miteinander umgeht. Ich denke, selbst die Beziehung zu den Lehrer:innen hat gelitten, weil auch die Autorität, die die Lehrer ausüben, ganz viel über den Beziehungsaufbau läuft.

 

Wie genau sah euer Programm für die Grundschüler:innen aus?
Wir haben sie gefragt: Wie soll eure Klasse sein, dass sich jede einzelne Person wohlfühlt? Anhand der Antworten haben wir Regeln aufgestellt und diese mit unseren Unterrichtseinheiten vermittelt. In den Einheiten gab es dann zum Beispiel das Thema Vertrauen. Darüber haben wir geredet, Geschichten dazu gehört und eine erlebnispädagogische Übung angeschlossen, die Sascha Hartwig von der PerspektivFabrik konzipiert hat.

 

Beschreib bitte einmal, wie die erlebnispädagogische Übung zum Thema Vertrauen ablief.
Wir haben Mausefallen ausgelegt, natürlich so, dass sich niemand verletzen konnte. Dazwischen haben wir eine Süßigkeit platziert. Dann konnten sich immer zwei Kinder zusammentun: Einem wurden die Augen verbun- den, das andere Kind sollte das »blinde« Kind mit Hinweisen zur Süßigkeit lotsen.

 

Inwiefern hattest du das Gefühl, dass diese Übungen helfen?
Viele Kinder, die geführt haben, wollten das zuerst gar nicht tun, weil sie es sich nicht zugetraut hatten. Es war ihnen anzusehen, wie stolz sie danach waren. Ich erinnere mich noch an eine Situation in einer vierten Klasse. Da gab es einen verhaltensauffälligen Jungen, der ständig alle aufmischte und eine große Unruhe in die Klasse brachte. Ich habe diesen Jungen gefragt, ob er mich bei dieser Übung führen möchte. Zuvor hatte er ganz oft Übungen verweigert, weil er keinen Bock hatte oder weil ihn andere kleingeredet haben. Es kamen Sprüche wie: »Der ist sowieso besonders.« »Der schafft es eh nicht.« Und diese Übung hat etwas bewirkt: Dieser Junge hat sie sehr ernst genommen und war hinterher unglaublich stolz, dass er mich durch den Mäusefallen-Parcours geführt hatte.

 

Sabrina Becker

 

Der Artikel erschien zuerst im CVJM Magazin für das CVJM-Ostwerk, Ausgabe 3/2022.